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Mitstreiter: Bengt Longer vom Verein Little Home flext das Blech für die Außenverkleidung der Wohnbox zurecht.
Mit kleinen Wohnboxen schenkt der Verein Little Home obdachlosen Menschen nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Sicherheit und Privatsphäre. Gründer Sven Lüdecke inspiriert Menschen, tatkräftig anzupacken für einen guten Zweck.
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Mitstreiter: Bengt Longer vom Verein Little Home flext das Blech für die Außenverkleidung der Wohnbox zurecht.
Während die meisten Menschen an diesem kühlen Samstagmorgen im September wohl noch in ihren Betten liegen, sind 21 Freiwillige schon früh aufgestanden. In Arbeitshosen und mit Schutzbrillen ausgerüstet warten sie auf einem Baumarktparkplatz in Köln-Zollstock auf Anweisungen. Vor ihnen steht ein hölzerner Kasten auf Rädern – das Ergebnis eines langen Tages harter Arbeit. Diese unscheinbare Box wird bald das neue Zuhause für eine wohnungslose Frau werden. Es ist bereits der zweite Samstag, den die Truppe mit dem Bau verbringt. Heute will sie die Fassade mit Blech und Holzlatten verkleiden, die Wände streichen, den Boden verlegen und Möbel zimmern.

Wohnbox statt Bahnhof
Sven Lüdecke weist die Freiwilligen ein. Für den Bauleiter des heutigen Projekts fing alles vor acht Jahren mit einem Zwischenfall am Kölner Hauptbahnhof an. Sven Lüdecke beobachtete, wie eine wohnungslose Frau unsanft geweckt und vertrieben wurde. Ihr Schicksal berührte ihn so sehr, dass er helfen wollte. Doch er wusste nicht wie – bis er im Internet auf den Künstler Gregory Kloehn stieß, der in Kalifornien Miniaturhäuser für Obdachlose aus Sperrmüll baut. Das war die Idee! Sven Lüdecke fuhr in den Baumarkt, kaufte Sperrholzplatten und begann zu werkeln. Zwei Monate tüftelte er, bis seine erste Wohnbox fertig war. Die verschenkte er an die obdachlose Frau.
„Und plötzlich verselbstständigte sich alles“, erzählt der Kölner. Die lokalen Medien berichteten über die Hilfsaktion. Obdachlose und Sozialverbände kamen auf ihn zu und schlugen vor, weitere Boxen zu bauen. 2017 gründete Sven Lüdecke den Verein Little Home. Mittlerweile arbeitet er Vollzeit für das Projekt und baut deutschlandweit Unterkünfte für Wohnungslose. 340 stehen inzwischen in Frankfurt, Hannover, Berlin und weiteren Städten. Das Konzept erwies sich nicht nur für Obdachlose als hilfreich: Nach der verheerenden Flut im Ahrtal 2021 baute der Verein auch Notunterkünfte für Menschen, die durch die Naturkatastrophe ihr Zuhause verloren hatten.

Mit der steigenden Nachfrage veränderte sich im Lauf der Jahre auch die Bauweise der Wohnboxen. Gemeinsam mit Bewohnern und Sozialarbeitern feilte Sven Lüdecke an Konstruktion und Ausstattung. Waren die Modelle anfangs kaum größer als eine Badewanne, bietet das neueste knapp acht Quadratmeter Platz – genug für ein Bett, einen Schrank, einen Klapptisch und eine Campingtoilette. Rauchmelder, Feuerlöscher und Erste-Hilfe-Kasten sorgen für Sicherheit. Eine Heizung, fließendes Wasser oder Strom gibt es aber nicht. Das Baumaterial finanziert der Verein aus Spenden. Die fertige Wohnbox bekommt die wohnungslose Person geschenkt.
Das aktuelle Modell lässt Sven Lüdecke als Wohnwagen zu. Die Boxen dürfen künftig also auch auf Campingplätzen oder kurzfristig am Straßenrand stehen. Damit löst der Vereinsgründer ein entscheidendes Problem: die Frage, wo die Boxen aufgestellt werden dürfen. Unterkünfte auf städtischen Flächen sind genehmigungspflichtig und müssen gewisse Standards erfüllen. Bei den kleineren Wohnboxen führte das in der Vergangenheit zu Konflikten mit Behörden, weswegen viele auf privaten Grundstücken standen.
263000
Menschen in Deutschland sind wohnungslos.
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Startschuss für den Neuanfang
Die Arbeit des Vereins soll helfen, die prekäre Situation von Obdachlosen zu verbessern. Derzeit sind in Deutschland laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales fast 263.000 Menschen wohnungslos, knapp 15 Prozent davon leben auf der Straße. Viele von ihnen schlafen ungeschützt, sind auch nachts Kälte, Nässe und Gewalt ausgesetzt. „Die Menschen sind in einem permanenten Alarmzustand. Da ist keine Energie mehr, um das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen“, beschreibt Sven Lüdecke die Lebensrealität vieler Obdachloser. Mit den Holzhäuschen will er schnell und unkompliziert helfen. Sie bleiben jedoch eine Übergangslösung.
„Ein Little Home ist wie ein Pflaster, das kurzfristig Schutz und Linderung bietet. Das darunter liegende Problem bekämpft es nicht“, betont der Vereinsgründer. Allerdings könne die Wohnbox zu einer Startrampe werden: „Wieder ein Gefühl von Sicherheit zu erleben, Privatsphäre zu haben: Dadurch schöpfen die Menschen Hoffnung“, meint der 48-Jährige. Seine Erfahrung: In einer Wohnbox kommen die Bewohner zur Ruhe und finden die Kraft, selbst Veränderungen anzustoßen. 180 haben das ihm zufolge bereits getan – und zum Beispiel einen Therapieplatz gefunden, eine berufliche Weiterbildung begonnen oder eine dauerhafte Wohnung bezogen.
„Wir schaffen gemeinsam etwas. Das ist ein befriedigendes Gefühl.”
Christina Schaberick, Freiwillige
Der persönliche Kontakt zu Little-Home-Bewohnern und die Zusammenarbeit mit sozialen Einrichtungen und anderen Vereinen sind Sven Lüdecke wichtig. Die Warteliste für eine Wohnbox ist lang, es gibt viele Tausende Bewerber. Ausgewählt werden jedoch nur Personen, die Eigenverantwortung zeigen und keine Drogenprobleme haben. Sozialarbeiter empfehlen sie. Mitglieder des Vereins und der Gründer selbst überzeugen sich in persönlichen Gesprächen von der Motivation der Kandidaten.
Doch bevor jemand in ein Little Home einziehen kann, braucht es viele helfende Hände. Die Holzhäuschen bauen Ehrenamtliche. Mal ist es ein Verein, mal eine Schulklasse, mal sind es Mitarbeiter eines Unternehmens – bereits 7.000 engagierte Menschen haben Sven Lüdecke zufolge mitgemacht. „Jedes Bauprojekt zeigt mir aufs Neue, dass unsere Welt trotz aktueller Krisen nicht verloren ist. Denn es gibt immer noch viele Menschen, die bereit sind, für diejenigen einzustehen, denen es nicht so gut geht“, sagt er.
Einen Unterschied machen
An diesem Samstag packen Teams zweier Vereine an: der Karnevalsgesellschaft „Für uns Pänz“ und des Refrather Väter-und-Kinder-Clubs aus dem gleichnamigen Stadtteil in Bergisch Gladbach. Normalerweise dekorieren die Mitglieder den Festsaal für die Karnevalssitzung oder bauen Bühnenbilder. Einigen merkt man ihr handwerkliches Geschick sofort an. Gekonnt schneiden sie mit der Kreissäge die Holzlatten zu, bohren Löcher, schweißen. Doch auch wer nicht zu den Hobbybastlern gehört, kann sich einbringen: hämmern, streichen oder leimen. „Wir schaffen gemeinsam etwas“, sagt Christina Schaberick, „das ist ein befriedigendes Gefühl.“ In der Hand hält sie eine Farbrolle und streicht die Holzlatten für die Außenverkleidung grün an. Dabei quatscht und scherzt die 54-Jährige mit den anderen Freiwilligen.

Unter ihnen ist Familie Plug. Alexander Plug hörte auf einem Konzert von dem Verein und bot Hilfe an. Bei seinem Arbeitgeber organisierte er eine Geldspende für das Material, im Karnevalsverein aktivierte er Helfer. Mit seiner Frau, den beiden Söhnen und der Tochter baut er nun mit. Nach zwei Stunden liegt der Boden und die Bleche sind montiert. Nach fünf Stunden sind die Holzlatten befestigt und die ersten Möbel stehen. Nach über acht Stunden ist die Wohnbox fertig. Jetzt muss sie nur noch vom TÜV abgenommen werden. Die Bewohnerin für die neu gebaute Box hat Sven Lüdecke schon im Blick: Chrissy, eine Frau, die mit ihrem Hund bereits seit Längerem in einer kleinen Wohnbox im Kölner Norden lebt. Die neue Unterkunft bedeutet für sie noch einmal mehr Platz für sich.
So wie Chrissy will Sven Lüdecke noch vielen Menschen auf der Straße helfen. Aktuell knüpft er Kontakte nach Luxemburg und möchte die Idee dort sowie in anderen Nachbarländern verbreiten. Genauso wie die Freiwilligen, die heute tatkräftig mit ihm angepackt haben, glaubt er fest daran: Ein kleines Haus kann einen großen Unterschied machen.
Fotos: Martin Leclaire